Der emeritierte Papst Benedikt XVI. ist in einem neuen Missbrauchsgutachten des Erzbistums München und Freising schwer belastet worden. Benedikt habe als damaliger Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger in vier Fällen nichts gegen des Missbrauchs beschuldigte Kleriker unternommen, teilten die Gutachter mit. In einer Stellungnahme bestritt Benedikt zwar seine Verantwortung „strikt“, die Gutachter halten dies aber für nicht glaubwürdig. Der 2013 zurückgetretene Papst war von 1977 bis 1982 Erzbischof des Erzbistums München und Freising.
Rund 500 Betroffene von sexualisierter Gewalt
Rechtsanwalt Martin Pusch von der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), die das Gutachten im Auftrag des Bistums durchgeführt hat, erklärte, man habe für die Jahre 1945 bis 2019 Hinweise auf mindestens 497 Betroffene sexualisierter Gewalt gefunden. 247 Opfer seien männlich, 182 weiblich gewesen. In 60 Fällen war eine Zuordnung nicht möglich. 60 Prozent der betroffenen Jungen waren zum Tatzeitpunkt zwischen acht und 14 Jahre alt. Es gebe mindestens 235 mutmaßliche Täter, darunter 173 Priester und neun Diakone. Diese Zahlen deckten jedoch nur das Hellfeld ab, so Pusch. Die Kanzlei gehe von einem weit größeren Dunkelfeld aus.
Pädophiler Priester weiter in Seelsorge tätig
Erzbischöfe von München und Freising |
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1821-1846: L.A. v. Gebsattel 1846-1856: K.A.G.v. Reisach 1856-1877: Gregor v. Scherr 1878-1889: A. v. Steichele 1889-1897: A. v. Thoma 1897-1909: F. J. von Stein 1909-1917: F. von Bettinger 1917-1952: M. v. Faulhaber 1952-1960: Joseph Wendel 1961-1976: Julius Döpfner 1977-1982: J. Ratzinger 1982-2007: Friedrich Wetter seit 2018: Reinhard Marx |
Benedikts 82 Seiten starke Einlassungen, die mit seiner Erlaubnis mit dem mehr als 1.600 Seiten starken Gutachten veröffentlicht wurden, bieten aus Sicht der Anwälte „einen authentischen Einblick“ zur persönlichen Haltung eines herausgehobenen Kirchenvertreters zum Missbrauchsgeschehen.
Zweifel äußerte Pusch vor allem an der in einigen Fällen von Benedikt XVI. behaupteten Unkenntnis. Diese sei mit den aus den Akten gewonnenen Erkenntnissen bisweilen kaum in Einklang zu bringen. So verwies sein Anwaltskollege Ulrich Wastl auf eine Kopie des Protokolls einer Ordinariatssitzung, in dem Benedikt nicht als abwesend aufgeführt sei. In dieser Sitzung habe man unter anderem entschieden, dass ein bekanntermaßen pädophiler Priester in das Erzbistum München übernommen und wieder seelsorgerisch tätig sein solle. Der übernommene Priester missbrauchte anschließend weitere Kinder. In seiner Stellungnahme bestritt der emeritierte Papst jedoch, bei der Sitzung anwesend gewesen zu sein.
Auch Wetter und Marx stark in der Kritik
Ratzingers Nachfolger im Erzbistum München und Freising, Friedrich Kardinal Wetter, wirft das Gutachten ebenfalls 21 Fälle von Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch vor. Wetter habe die Fälle zwar nicht bestritten, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon, sagte Pusch. Wetter mache eine mangelnde Kenntnis über die Dimensionen sexuellen Missbrauchs geltend. Dies sei angesichts der langjährigen medialen Berichterstattung eine „wenig tragfähige Schutzbehauptung“, so Pusch. „Plausibler erscheint uns die Verdrängung eines mit Händen greifbaren Problems“. Wastl sprach von einer „Bilanz des Schreckens“.
Auch der amtierende Kardinal Reinhard Marx soll in mindestens zwei Verdachtsfällen fehlerhaft mit Missbrauchsfällen umgegangen sein. Es geht dabei um Meldungen an die Glaubenskongregation in Rom. Es sei im Fall von Marx trotz der Vielzahl von Meldungen nur in „verhältnismäßig geringer Zahl“ festzustellen gewesen, dass er sich überhaupt unmittelbar mit Missbrauchsfällen befasst habe. Marx habe sich vielmehr auf eine „moralische Verantwortung“ zurückgezogen und die direkte Verantwortung im Generalvikariat gesehen. Erst ab 2018 habe sich seine Haltung geändert. Im vergangenen Jahr hatte Marx Papst Franziskus seinen Rücktritt angeboten, dieser lehnte jedoch ab.
Der Kardinal selbst hatte im Vorfeld der heutigen Vorstellung des Gutachtens erklärt, nicht an der Veranstaltung teilzunehmen. „Wir bedauern sein Fernbleiben außerordentlich“, sagte Anwältin Marion Westpfahl. Besonders die Betroffenen des Missbrauchs hätten ein Interesse daran gehabt, dass der Kardinal sie wahrnehme. Marx will sich stattdessen am Nachmittag in einem Statement äußern.